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Die Mär von dem Unverwundbaren

Autorenbild: KörperzeitKörperzeit

Aktualisiert: 26. Dez. 2024


Ein Gesicht was aus mehreren Teilen besteht. Wie fügt man es nun richtig zusammen?

Es war einst in einem ferngelegenen Dorfe, da lebte ein Mann, den man allenthalben nur den Unverwundbaren nannte. Der Grund war jener, dass er, wie man ihm nachsagte, niemals Klage führte, selbst wenn das Leiden ihn heimsuchte. Nie verkniff er das Angesicht im Schmerz, nie sah man ihm auch nur den leisesten Gram an. Die Menschen raunten sich zu, dass er wohl über Superkräfte verfügen müsse, wie die Helden aus den alten Geschichten. Die Kinder des Dorfes erzählten sich gar, dass der Mann ein wahrer Superman sei, der das Leid der anderen auf sich nehme, damit niemand sonst es tragen müsse.


Es geschah, dass dieser Ruf dem Manne immer mehr abverlangte, und er begann, seinen Schmerz noch tiefer zu verbergen, auf dass niemand ihn je bemerken möge. Doch hinter dieser Geschichte steckte mehr, als die Leute ahnten.


In den frühen Tagen seiner Kindheit erfuhr der Mann vieles, was ihn prägte und zu dem machte, der er heute war. Seine Eltern, streng und pflichtbewusst, lehrten ihn, niemals seine Schwäche zu zeigen, denn ein Mann, so sagten sie, sei nur dann ein wahrer Mann, wenn er alles ertragen könne, ohne zu klagen. Der Junge nahm sich diese Worte zu Herzen, und so lernte er, all seinen Schmerz tief in seinem Innern zu verschließen.


Die Erwachsenen im Dorfe, die ihm im Stillen Bewunderung zollten, lästerten hinter seinem Rücken. Sie fragten sich, warum er wohl so tue, als würde ihm nichts wehtun. Doch die Wahrheit, die niemand wusste, war, dass der Mann, um der Bewunderung willen, seine wahren Empfindungen immer tiefer verbarg.


Eines Tages jedoch, als der Mann alleine durch den stillen Wald wanderte, traf er auf einen alten Weisen, der ihn mit einem Blick durchdrang, als könne er in die tiefsten Winkel seines Herzens sehen. Der Weise sprach: „Warum trägst du die Maske des Unverwundbaren, junger Mann? Glaubst du, wahre Stärke liegt darin, niemals Schmerz zu zeigen?“


Der Mann, überrascht, dass jemand seine Fassade durchschaut hatte, antwortete: „Ich tue es nicht für mich, sondern für die anderen. Sie brauchen jemanden, der stark ist, der ihnen zeigt, dass man alles ertragen kann.“


Der Weise lächelte sanft und sprach: „Doch was, wenn ich dir sage, dass wahre Stärke darin liegt, sich seiner Schmerzen bewusst zu sein und sie zu akzeptieren? Die Menschen mögen in dir einen Helden sehen, aber du täuschst dich selbst am meisten. Die Last, die du trägst, wird eines Tages zu schwer werden, und dann wirst du zerbrechen. Lerne, dir helfen zu lassen, und erkenne, dass es keine Schwäche ist, Unterstützung anzunehmen. Das ist der Weg zu wahrer Unverwundbarkeit.“


Diese Worte drangen tief in das Herz des Mannes, und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er eine Träne über seine Wange rollen. Er erkannte, dass der Weise recht hatte. Von diesem Tage an lernte der Mann, auch seine eigenen Bedürfnisse und Schmerzen zuzulassen und sich helfen zu lassen, anstatt alles alleine zu tragen. Die Menschen im Dorfe wunderten sich, als sie ihn lächeln sahen, nicht mehr mit der Maske des Unverwundbaren, sondern als einen Mann wie sie selbst, mit Stärken und Schwächen.


Und so lebte der Mann von da an glücklicher als zuvor, denn er hatte erkannt, dass wahre Stärke nicht darin liegt, niemals zu klagen, sondern darin, sich selbst so anzunehmen, wie man ist, und sich helfen zu lassen, wenn es nötig ist.


So endet die Mär von dem Unverwundbaren, der lernte, dass die größte Kraft im Herzen selbst zu finden ist, wenn man sich erlaubt, Mensch zu sein.

 
 
 

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